© Svetlana Savickaya
EINE ENTFÜHRUNG
Deutsch von H. Abrams
© Illustration von Svetlana Savickaya , Moskau
Die Frau zog dem Mädchen eine Jacke an. Es sträubte sich dagegen. Die Frau war aber groß und stark, das Mädchen dagegen klein und zierlich. Die Frau ähnelte einer großen Puppe aus Watte, die ungeschickt geschneidert war: ein großer langer Körper, lange Beine, wie Milchflaschen, füllige Arme, ein kleiner Kopf ohne Hals: das alles machte den Eindruck, als ob eine Schneiderin ihn direkt an den Körper genäht hätte.
„Na, was sagst du, Jurk?“
„Ein Futterradieschen!“
„Ich meine nicht die Frau! Ich meine das Wesentliche...!“
Seit einer Woche kamen sie auf Fahrrädern jeden Tag hierher, nicht um eine Katze, einen Hund oder ein Eichhörnchen zu zähmen: Die Brüder Nikitin zähmten ein Mädchen.
„Wir müssen nach Hause, das ist jetzt das Wesentliche. Mama glaubt, wir sind im Hof, vielleicht vermisst sie uns schon…“
Und wieder schlängelte sich der Waldweg, durchzogen von weichen, aderähnlichen
Birkenwurzeln, vor den Fahrrädern. Die sanfte Luft des Moskauer Waldes war voller Duft von Brombeeren, Erdbeeren und Maiglöckchen. Die Jungen fuhren im Bogen um den See herum und eilten zur S–Bahn-Station. Im Wagen merkte Vitjok, dass die Turnschuhe des jüngeren Bruders an der Seite eingerissen waren. Sie sahen aus, als ob sie „um Futter bettelten“.
„Wie ist das passiert?“
„Wie? Wie?“ ahmte ihm Jura nach. „ Sag nur Mama nichts, sonst ist sie traurig und meint wieder, an mir brenne alles!“
Zum Mittagessen waren sie pünktlich zu Hause.
„Habt ihr Appetit mitgebracht?“ fragte die Mutter aus der Küche.
Jura versteckte die Turnschuhe im Regal und antwortete: „Wir haben uns beeilt, um um drei Uhr hier zu sein, wie du es gewollt hast!“
Während die Brüder ihre Suppe löffelten und anschließend Bratkartoffeln aus der Pfanne aßen, fiel der Blick der Mutter auf die Kamille, die in den Speichen des Fahrrades stecken geblieben war.
„Seid ihr etwa wieder im Wald gewesen?“
In Erwartung von Schelte kratzten die Jungen schweigend die angebratenen Kartoffelreste aus der Pfanne.
„Sind die Brombeeren schon reif?“
„Ja.“
„Tapezieren wir weiter?“
„OK.“
Das kleine Zimmer sah niedlich wie ein Spielzeug aus. Während die Eltern überlegten, für wen es jetzt sei, für Jura oder für Vitja oder für sie als Schlafzimmer, spielten die Jungen auf dem Boden das Kartenspiel „Durak“.
Jurka war ein schlechter Verlierer, und er verlor auch immer wieder. Vitjka dagegen gewann fast alle Spiele. So auch jetzt. Jurka stöhnte über sein dauerndes Pech.
„Was ist? Hast du schon wieder verloren?“ fragte die Mutter mit einem mitleidigen
Lächeln.
Vitjka räkelte sich genüsslich wie ein Perserkater: „Ganz viele Runden zu meinen Gunsten!“
„Ja, aber er mogelt!“ hielt Jurka dagegen.
„Noch ein Wort, und ich sage das mit den Turnschuhen, kapiert?“
„Kapiert, kapiert! Mama, liest du uns nochmal vom Prinzen vor, von dem kleinen?“
„Das habe ich doch schon so oft vorgelesen.“
„Na, dann von Andersens Schwänen?“
„Auch von den Schwänen habe ich oft genug vorgelesen. Alles habe ich euch bereits vorgelesen. Ihr seid schon groß. Lest doch selbst!“
Die Ferien verbrachten die Brüder zu Hause. Vom frühen Morgen an erkundeten sie hoch zu Fahrrad die Umgebung ihres Moskauer Wohnortes Novokossino und das benachbarte Reutovo, Saltykovka, Schelesnodoroschny, Märkte, Wälder, Maisfelder…Ohne ihrer Mutter ein Wort zu sagen, trauten sie sich allmählich immer tiefer ins Moskauer Gebiet. Mit der S-Bahn fuhren sie bis zum Fluss Kirschatsch und bis zum Dorf mit dem Namen Dickicht, der einen großen Reiz auf sie ausübte. Weiter fuhren sie ins „Sternstädtchen“ zum Gagarin – Denkmal.
Jurka war, obwohl drei Jahre jünger, seinem älteren Bruder ebenbürtig, seine Äußerungen waren präzise und treffend. Doch Vitjka, ausdauernd und stark wie ein Elch, erfinderisch wie Münchhausen, konnte länger unter Wasser schwimmen, und sein Blick fand immer wieder etwas Interessantes auf dem Erdboden. Von weitem sahen die beiden beinahe aus wie Dinosaurier, allerdings konnte der kleinere mit dem größeren kaum Schritt halten.
Am nächsten Tag machten sie ihre übliche Runde durch die Stadt. Und wie immer fand Vitjok etwas: Geld, für Jurka ein ganzes Vermögen.
„Siehst du, Jurikus – Schmurikus! Nimm dir ein Beispiel, solange ich lebe! Kaufen wir Turnschuhe?“
Der Geldschein zwischen seinen Fingern flatterte im Wind.
„Besser eine Pumpe. Die alte taugt nichts mehr.“
„Richtig, mein kleines Genie! Wenn du auch ein zahnloser Magerdrache bist“, schmunzelte der Ältere gutmütig.
„Selbst…ein Drache!“
Von Vitjkas Fahrrad flog eine Faust:“ Kapiert?“
„Kapiert, kapiert!“ murrte der Jüngere.
Im Sportgeschäft roch es nach Gummi und Klebstoff. Die Verkäuferin Nelli, ihre Nachbarin im Treppenhaus, flirtete mit einem jungen Mann.
„Junge Frau! Junge Frau! Zeigen Sie uns bitte eine Pumpe fürs Fahrrad!“
Die Jungen taten so, als würden sie Nelli nicht kennen. Nelli zahlte mit derselben Münze zurück, indem sie eine Pumpe lässig auf die Theke warf.
„Junge Frau! Junge Frau…“
„Haltet doch eure Klappe, ihr jungen Stifte!“
„Junge Frau, nehmen Sie bitte…“
Nelli schickte die lästigen Kunden mit ihrem Lieblingsspruch zum Teufel und wandte sich wieder dem jungen Mann zu.
„Na, gehen wir?“ fragte Vitjka seinen Bruder.
„Uns bleibt nichts übrig, wenn man uns wegschickt.“
Mit der Pumpe in der Hand verließen die Jungen den Laden.
„Wir haben doch nicht bezahlt“, sagte Jurka.
„So, wie die uns, so wir ihr“, sagte sein Bruder. „Komm, wir kaufen doch ein Paar Turnschuhe.“
„Wieso? Hast du vergessen, wohin wir fahren wollten…?“
Das Geld reichte für ein paar Tütchen mit Süßigkeiten und Saft.
„Jurk! Du hast ja zwei Scheitel!“
„Na und?“
Selbstbewusst schob Jurka die Hand seines Bruders von seinem Kopf.
„Du, Juravon-Durakon! Das heißt: Du wirst zwei Frauen haben!“
Jurka stellte sich in Gesellschaft mit zwei feindlichen, fülligen Nellis vor…
„Was soll ich mit solchen vollbusigen Dummchen?“
„Na, was wohl? Du gibst ihnen ein Springseil in die Zähne und sie schwingen das Seil dann.“
„Und wozu?“ Jurka ärgerte sich schon.
„Wie, wozu? Du kannst dann darüber springen.“
Vitjka lachte und lief seinem Bruder davon. Sie schafften es gerade noch, die Regionalbahn zu nehmen. Alles fügte sich an diesem Tag zum Guten.
Beim rhythmischen Geräusch der Achsen des Waggons erinnerte sich Jurik an die erste Begegnung mit dem unbekannten Mädchen aus dem Kinderheim. Die Erzieher hatten die ganze Freizeitgruppe aus dem Sommerlager zum See gebracht. Es wimmelte im Wasser nur so von Kindern. Nur ein Mädchen badete nicht. Sie saß im Gras und sah, mit den Tränen kämpfend, dem Trubel zu. Eine große und dicke Frau näherte sich ihr und zog ihr eine Jacke an. Plötzlich bemerkte das Mädchen, dass zwei sonnengebräunte Jungen sie beobachteten. Das weckte in ihr etwas Rebellisches. Sie warf ihre Kleider ab und ging graziös zum Sprungbrett. Ihr Gang und ihre Haltung verrieten eine gut trainierte Sportlerin. Nun nahm sie einen Anlauf und glitt nach einem Salto fast ohne Spritzer ins Wasser.
Danach schimpfte die Erzieherin mit ihr noch lange. Jurka aber weinte auf dem Rückweg, weil ihm das kleine hilflose Mädchen leidtat.
„Jurachij-Pridurachij, heule nicht!“ versuchte Vitjok ihn zu trösten.
„Selbst ein Durachij… Sie sitzt da und wartet auf ihre Eltern. Sie haben sie sicherlich verlassen. Irgendeine, eine Hexe wie Nelli, hat sie sicher ausgesetzt, und nun wartet sie…in dieser blöden Jacke.“
„Heulsuse! Sie wartet… Vielleicht wartet sie gar nicht. Vielleicht ist sie krank?“
„Na, dann, damit sie nicht mehr krank wird, muss sie baden!“
„Du bist mir ein rechter Mediziner!“
„Wir sollten sie vielleicht zu uns mit nach Hause nehmen? Was meinst du? Und ihr das neue Zimmer geben! Sie wird mit mir in eine Klasse gehen…Gute Idee, Vitj?“
„Bist du verrückt? Als wir einmal einen Kater mitgebracht hatten, hat Mama befohlen, ihn sofort zurückzubringen!“
„Ja, das war ja auch ein Kater! Hier aber geht es um ein Schwesterchen! Weißt du noch: Mama sagte, dass sie mit Vater einen unterschiedlichen Rhesusfaktor hat, sie darf nicht mehr als zwei Kinder gebären, sie hat im Körper diese, na…“
„Antikörper.“
„Genau! Und wenn wir das Mädchen einfach mitbringen, muss sie nicht gebären. Hier haben wir ein fertiges Schwesterchen!“
„Die Phantasieabteilung ist im Obergeschoss.“
Die Träume des Bruders waren aber ansteckend. Bereits am nächsten Tag sammelte Vitja in einem Obstgarten Stachelbeeren und verkratzte sich dabei die Arme bis aufs Blut.
Mit den Beeren gingen sie zum See und wollten sie dem Mädchen schenken, es rief aber: „Dorfjungen!“ und lief weg. Als die Brüder weit genug entfernt waren, nahm sie die Beeren doch. Die Brüder näherten sich ihr allmählich wieder, nach dem Rezept des Alten Fuchses aus dem „Kleinen Prinzen“ von De Saint-Exupéry. Das Mädchen blieb auf Distanz, erschien aber eine Woche lang genau um elf Uhr da, wo sie sich zum ersten Mal gesehen hatten.
…Heute aber war sie nicht da.
„Was meinst du, Jurk?“ Vitjok war sprachlos.
„Vielleicht ist sie weggefahren?“
„Wer ist weggefahren?“ Ein lustiges Gesicht wurde im Gebüsch sichtbar. „Jetzt hab´ ich euch!!! Was wollt ihr hier?“
Alle drei verstanden, dass es Zeit ist, die Karten offen zu legen und endlich Klartext zu sprechen. Die Brüder ahnten, dass die Freizeit bald enden würde und sie zurückfahren müsste. Auch sie hatte, offensichtlich, dasselbe befürchtet.
„Weißt du, wir haben beschlossen, dich zu entführen“, Vitjok holte lässig die gesammelten Schätze. „Magst du? Nimm! Wir haben noch mehr…“
Jurka erschrak wegen der Worte seines Bruders, freute sich aber auch über den Lauf der Dinge.
Das Mädchen nahm vorsichtig eins der Bonbons, wie ein Eichhörnchen, jeden Augenblick bereit zu fliehen. Die Jungen hielten inne und lächelten erwartungsvoll. Dann verschlang sie das zweite und auch das dritte Bonbon und lachte, als das vierte an Vitjkas Handfläche kleben blieb, und sie es direkt mit den Lippen nehmen musste.
„Mama hat mir immer solche gekauft. Papa arbeitete als Geologe… Sie sind umgekommen, bei einem Verkehrsunfall, vor zwei Jahren…“
„Und was machst du jetzt?“
„ Das siehst du doch!“, hüstelte sie in die Hand.
„Wie heißt du?“
„Lucia. Oder einfach Lucik. Meine Mama nannte mich so.“
„Was ist das denn für ein Name? Hast du ihn selbst erfunden?“
Das Mädchen wurde traurig.
Jurka zeigte dem älteren Bruder hinter dem Rücken die Faust und versuchte die Wellen zu glätten. Er machte einen Schritt nach vorne und sagte:
„Ich bin ein Amphibien – Mensch.“
“Bitte?“
„Ich bin lange durch Pfützen gelaufen, und an meinen Turnschuhen sind Kiemen gewachsen.“
Die Kinder lachten.
„ Nimm noch mehr, iss doch, iss, Lucik!“ Vitjka sah schnell seinen Fehler ein.
„Warum isst er nicht?“ Lucia zeigte auf Jura.
„Der ist satt.“
„Ich bin nicht satt. Ich bin Jura.“
Die Kinder waren fröhlich und fühlten sich rasch wie vertraut. Sie alle hatten dieses Treffen herbeigesehnt.
„Lucia!“ erklang plötzlich die Stimme der Erzieherin.
Die Jungen versteckten sich schnell hinter dem Gebüsch. Das Mädchen hielt verschwörerisch den Finger vor dem Mund: „Leise!“
„Warum heißt du Lucia?“ fragte Vitjok so höflich, wie er nur konnte, und fuhr ziemlich abrupt fort: „Bist du keine Russin?“
„Belarussin!“.
„Na ja, helle Haare hast du ja“, steuerte Vitjok sein erstes Kompliment in seinem Leben bei.
„Lucia!“ die Frau im Kittel gab nicht auf.
„Ich muss gehen. Ich komme wieder. Wartet hier auf mich!“
Das Mädchen lief wie der Blitz und behände davon.
Die Brüder mussten nicht lange warten. Sie kehrte bald zurück und brachte von ihren Händen erwärmte Aprikosen mit. „Esst! Die gab es zum Nachtisch!“
„Und du?“
„Ich bin satt. Ich bin nicht Jura…“
„Lucia!“- rief die Frau zum wiederholten Mal.
Das Mädchen lief wieder fort.
„Na, Jurk, was sagst du?“
„Wir müssen sie mitnehmen, was denn noch! Guck mal, sie wird wieder in diese Jacke gesteckt. Wir müssen´s einfach tun, heute oder nie!“
„Und was ist mit Mama…?“
Dieses Mal kam Lucia nicht gerannt, sondern, in der fremden Jacke steckend, langsamen Schrittes, wie mit einem Schuldgefühl und fragte die Jungen:
„Habt ihr es euch mit dem Entführen nicht anders überlegt?“
Die Jungen guckten sich verwundert an.
„Kannst du auf dem Rahmen sitzen?“
„Locker! Ich bin sehr gelenkig! Entführt mich! Bitte!“
Vitjok setzte sie im Nu auf sein Fahrrad, und es ging los. Sofort versorgte die Waldluft die Kinder mit energiespendender Lebenskraft.
„Lucia! Lucia!“ Ihr Name verfolgte sie, bis er irgendwo unterwegs verstummte. Vitjok fuhr mit seiner kostbaren Last sogar so schnell, dass Jura ihm kaum folgen konnte.
„Wir haben eine sehr liebe Mama. Und was für leckere Watruschki sie backt!“ rief er ihr zu, kaum in der Lage, dem Tempo seines Bruders zu folgen.
„Und Papa…Der kennt Zaubertricks…“ fügte Vitjka hinzu, dem Bruder ins Wort fallend.
Lucia aber sah von einem zum anderen und glaubte zu träumen. Ihre hellen glänzenden Haare flogen im Wind. Sie hielt sich am Lenker fest, und in ihrem Herzen loderte die Hoffnung: Wenn diese Jungen so eine liebe Mama haben, dann wird sie bestimmt einen Platz für ein kleines Mädchen finden...
Am ersten September schritten sie Hand in Hand zu dritt in die Schule. Sie erzählten einander immer wieder mit Stolz von den Heldentaten der Eltern. Darüber, wie der Vater ins Freizeitlager fahren musste, um dort die Leitung zu besänftigen. Er musste ungezählte Büros in der Behörde durchlaufen, um jedem und allen zu erklären, wie sehr er sich bereits seit langem eine Tochter gewünscht habe. Dann haben sie mit Mama verschiedene Bescheinigungen gesammelt, um nachzuweisen, dass Nikitins gescheite Leute seien und, wenn das Geld für den Unterhalt von drei Kindern jetzt nicht ausreiche, sie es ganz sicher selbst verdienen würden. Sie lobten, einander ins Wort fallend, die hübschen Gardinen, die Mama für das Mädchenzimmer genäht hatte. Nicht minder zufrieden waren die Brüder mit ihrem Schwesterchen, das ziemlich schnell gelernt hatte, Watruschki zu backen und Zaubertricks zu zeigen. Auch sie strahlte vor Glück, weil Jurka gestern neue Turnschuhe bekommen hatte. Die Kinder übergaben die alten, die mit den „ Kiemen“, feierlich dem Müllschlucker, wo schließlich auch die verhasste Jacke landete, die immer noch nach „Futterradieschen“ roch.
(Anmerkungen der Übersetzerin:
Watruschki – süße Hefeteilchen mit Frischkäse.
Luc = der Lutsch – russ. Lichtstrahl
Lucik = Lutschik – russ. kleiner Lichtstrahl)